Trauma & Folgen
Zu den seelischen Krankheiten im Sinne der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie zählt die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Posttraumatic Stress Disorder (PTSD).
Die PTBS (6B40 im ICD11) ist eine spezifische Form einer Traumafolgestörung. Sie gehört laut Diagnosekatalog zu “Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind”. Verwandte Störungsbilder sind die akute Belastungsreaktion (QE84) und die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (6B41).
Die PTBS ist eine mögliche Folgereaktion auf eines oder mehrere traumatische Ereignisse, die an der eigenen Person erlebt oder bei fremden Personen beobachtet werden. Als traumatisierend werden im Allgemeinen Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet.
Symptome können sein (1):
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wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können.
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wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis.
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Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (Illusionen, Halluzinationen oder dissoziative Flashback-Episoden).
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intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.
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Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.
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Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität.
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Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern.
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deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten.
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Depersonalisation, Derealisation.
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eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit zu Liebesgefühlen).
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anhaltende Symptome erhöhten Arousals, Konzentrationsstörungen.
Die umfangreichen Folgen einer durch frühe, lang anhaltende Traumatisierung(en) gestörten Persönlichkeitsentwicklung werden aktuell unter den Begriffen "Komplexe Traumafolgestörung", "Developmental Trauma Disorder" oder "Komplexe Präsentation einer Posttraumatischen Belastungsstörung", "Disorder of extreme stress" oder "Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified" (DESNOS) diskutiert und sind seit 2022 als “Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (6B41) gelistet.
In Fachkreisen sind seit vielen Jahren Symptome der komplexen Traumafolgestörung beschrieben(2):
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Störungen der Regulation von Affekten und Impulsen
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Störungen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins
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Störungen der Selbstwahrnehmung
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Störungen sozialer Beziehungen
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Somatisierung
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Veränderungen von Lebenseinstellungen
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Selbstverletzung, Suizidalität
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dissoziative Symptome/ Störungen
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zahlreiche Komorbiditäten
Es ist erwiesen, dass chronifizierte posttraumatische Belastungen über die traumaassoziierte Stressaktivierung den Verlauf körperlicher Erkrankungen mit bedingen bzw. beeinflussen. Insbesondere ist dies belegt für Herz-Kreislauferkrankungen und immunologische Erkrankungen.(3) Internationale Studien fanden bei der Mehrzahl von Menschen mit PTBS darüber hinaus komorbide psychiatrische Diagnosen.(4) Beispielsweise wurde ein Zusammenhang zwischen der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) und Traumatisierungen in der Kindheit mehrfach belegt.(5) Die BPS ist geprägt durch ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Die Störung beginnt im frühen Erwachsenenalter und tritt in den verschiedensten Situationen auf.
Viele häufig chronisch kranke, meist in der Kindheit in ihren Familien traumatisierte Menschen erfüllen auch alle Kriterien der "klassischen" PTBS, doch diese erfassen das Störungsbild nicht ausreichend. Gerade bei chronisch erkrankten traumatisierten Menschen und bei Menschen, die in der Kindheit Gewalt erlebt haben, ist der Anteil derer, die an Komorbiditäten leiden, besonders hoch. Er liegt in der Regel bei PTBS zwischen 60 und 100 %(6).
ExpertInnen arbeiteten lange daran, die Diagnose „komplexe PTBS“ für den ICD-11 zu definieren(7). Seit 2022 ist sie wie folgt darin beschrieben(10):
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (complex PTSD/komplexe PTBS) ist eine Störung, die sich entwickeln kann, nachdem man einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen extrem bedrohlicher oder schrecklicher Natur ausgesetzt war, meist lang anhaltende oder sich wiederholende Ereignisse, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann (z. B. Folter, Sklaverei, Völkermordkampagnen, lang anhaltende häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Missbrauch in der Kindheit). Alle diagnostischen Voraussetzungen für eine PTBS sind erfüllt.
Darüber hinaus ist die komplexe PTBS gekennzeichnet durch schwere und anhaltende
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Probleme bei der Affektregulierung;
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Überzeugungen über die eigene Person als vermindert, besiegt oder wertlos, begleitet von Scham-, Schuld- oder Versagensgefühlen im Zusammenhang mit dem traumatischen Ereignis; und
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Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten und sich anderen nahe zu fühlen. Diese Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Synonyme:
andauernde Persönlichkeitsstörung nach Erfahrungen katastrophalen Ausmaßes
Unterbegriffe:
Persönlichkeitsveränderung nach Erfahrungen in Konzentrationslagern
Persönlichkeitsveränderung nach Katastrophen-Ereignissen
Persönlichkeitsveränderung nach (andauernder) Gefangenschaft mit evtl. Lebensbedrohung
Persönlichkeitsveränderung nach (andauernder) Erfahrung lebensbedrohlicher Situationen wie z.B. Opfer von Terrorismus zu sein
Persönlichkeitsveränderung nach (andauernder) Erfahrung sexueller Gewalt
Persönlichkeitsveränderung nach Folter
Ebenfalls hier einzuordnen wäre die Dissoziative Identitätsstörung (ICD-11, 6B64), die sich entwickeln kann, wenn Extremstressoren der hier aufgezählten Art (insbesondere andauernde sexuelle Gewalt und Folter, rituelle Gewalt) auf ein Kind in den ersten Lebensjahren einwirken. Betroffene KlientInnen neigen dazu, ihre Symptomatik zu bagatellisieren oder zu verstecken. Sie haben ein hoch komplexes Krankheitsbild, bei dem eher subtile dissoziative und posttraumatische Symptome in eine Matrix aus komorbiden Störungen eingebettet sind, die eine „plakativere“ Symptomatik aufweisen, wie etwa Depression, Panik, somatoforme Störungen, Ess-Störungen etc.. Dies führt nicht selten dazu, dass nur die komorbiden Störungen diagnostiziert werden, die komplexe Traumastörung als deren Grundlage dagegen übersehen wird.(8) Das wiederum hat unter Umständen über Jahre hinweg fehlgeleitete Behandlungsversuche zur Folge, die allesamt wirkungslos bleiben, weil sie die Grunderkrankung nicht berühren.(9)
(1) AG Komplexe und dissoziative Störungen, MHH, Diagnosekriterien PTBS, 2006
(2) AG Komplexe und dissoziative Störungen, MHH, Diagnosekriterien komplexe PTBS, 2006; ISSD-Richtlinien, 2005; NICEGuideline CG26, PTSD management, 2005
(3) DeGPT et al, S3-Leitlinie zu PTBS, 2011
(4) Kessler et al. 1995; Creamer et al. 2001
(5) Zanarini et al. 2000; DeGPT et al. S3-Leitlinie zu PTBS, 2011
(6) Helzer et al. 1987; Kulka et al. 1990
(7) Maercker et al. World Psychiatry. Oct 2013; 12(3): 198–206
(8) International Society for the Study of Dissociation (ISSD), 2005, Richtlinie zur Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung, dt. Übersetzung 2006
(9) Gast, Rodewald, Hofmann, Mattheß, Nijenhuis, Reddemann & Emrich: Die dissoziative Identitätsstörung – häufig fehldiagnostiziert. Deutsches Ärzteblatt, Dez. 2006
(10) Englisch: https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/585833559. Deutsch (Entwurf) https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html.